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Call for Papers: Strategien der Verhinderung

Der Zugang zu Archivalien in Frankreich und Deutschland im internationalen Vergleich

Am 20. Februar betitelte »Le Monde« einen längeren Artikel Guerre de tranchées sur l’accès aux archives. Gibt es in Frankreich einen Grabenkrieg um den Archivzugang zwischen Forschenden, Archiven und Politik? Wie sieht es in Deutschland und in anderen europäischen Ländern aus?

Die Situation in Frankreich ist ambivalent.1 Der französische Präsident, Emmanuel Macron, betont die historiografische Offenheit auch bei sensiblen Themen wie dem Algerienkrieg und der diplomatischen und militärischen Intervention in Rwanda während des Völkermords 1994. In beiden Fällen verfassten Historiker in offiziellem Auftrag Berichte mit allerdings unterschiedlicher Stoßrichtung: Benjamin Stora legte Anfang 2021 einen Bericht und Empfehlungen zum kollektiven Gedenken zu Algerien vor. Vincent Duclert, der bereits 2018 mit einer Kommission einen Bericht über die Erforschung von Genoziden und Massenverbrechen verfasst hatte, sollte die französische Rolle in Rwanda und im Kontext des Genozids an den Tutsi aufklären; der Bericht einer von ihm geleiteten Forschungskommission wurde 2021 dem Präsidenten übergeben. Gerade im zweiten Fall war damit auch ein Recht auf privilegierten Aktenzugang verbunden, ähnlich wie bei historischen Kommissionen in Deutschland, die die Vorgeschichte bundesrepublikanischer Institutionen erforschen sollten. Für die historische Forschung ist es wünschenswert, wenn ihr wie im vorliegenden Fall die verwendeten Quellen weiterhin zur Verfügung stehen, zumal solche, die zuvor nicht zugänglich waren.

In anderen Bereichen wurde der Zugang in den vergangenen Jahren dagegen eher schwieriger. Konkrete und massive Proteste ruft namentlich seit vorigem Jahr die Instruction générale interministérielle 1300 (IGI) hervor. Forschende fürchten, dass diese interministerielle Anordnung, die unter anderem Fragen der Geheimhaltung regelt, im Namen der nationalen Sicherheit den Zugang zu Archivalien für die zeitgeschichtliche Forschung grundsätzlich erschweren wird, da die relativ liberalen Fristen des Archivrechts durch aufwändige Freigabeverfahren für klassifizierte Dokumente ausgehebelt werden können. Selbst bereits bekannte, gar edierte Dokumente könnten davon betroffen sein. Die Motive für den Erlass der »IGI 1300« sind unklar, umso mehr als sie mit der seit François Hollande betriebenen präsidialen Erinnerungspolitik zu kollidieren scheinen.

Ist die Situation in Frankreich einzigartig? Der Blick auf andere Länder zeigt schnell, dass Fragen des Archivzugangs auch dort von erheblicher Aktualität sind. Ihr mediales Echo geht über den Kreis der Forschenden hinaus und spiegelt einerseits die Forderung nach Transparenz in unseren heutigen Gesellschaften und andererseits den Stellenwert von – nicht immer konfliktfreier –wissenschaftlicher und juristischer Aufarbeitung und Vergangenheitspolitik im Europa des 21. Jahrhunderts. In Deutschland hat zuletzt die Übergabe der Stasi-Unterlagen an das Bundesarchiv Debatten über dessen Rolle ausgelöst; der französische Forscher Fabien Théofilakis will den Zugang zu Eichmann-Akten des Bundesamts für Verfassungsschutz gerichtlich einklagen.

Mit dem Aufstieg illiberaler Demokratien in Ostmitteleuropa wurde eine staatlich gesteuerte Geschichtspolitik zunehmend zum Instrument der Macht. Die gezielte Einflussnahme betraf zunächst die Museumslandschaft sowie die Förderung wissenschaftlicher Einrichtungen. Zum Teil müssen sich Historikerinnen und Historiker, deren Forschung unliebsame Ergebnisse produziert, vor Gericht verantworten, wie in Polen. Doch inwiefern, für wen und bei welchen Themen der Archivzugang beschränkt wird, bleibt weiterhin zu untersuchen. In Westeuropa wirft insbesondere der Umgang mit der kolonialen Vergangenheit und entsprechenden Restitutions- und Kompensationsforderungen die Frage auf, wie weit historische Forschungen und journalistische Recherchen in Archiven uneingeschränkt möglich sind.

Bitte schicken Sie ein Abstract von maximal 500 Wörtern in einer der drei Konferenzsprachen (französisch, deutsch oder englisch) bis zum 20. September 2021 an Agnieszka Wierzcholska: awierzcholska@dhi-paris.fr

Termin: 19./20. Januar 2022
Ort: Deutsches Historisches Institut Paris
Konferenzsprachen: Deutsch, Französisch, Englisch

Organisationskomitee:
Corine Defrance (CNRS, SIRICE Paris)
Jürgen Finger (DHIP)
Ulrich Pfeil (Université de Lorraine)
Annette Weinke (Universität Jena)
Agnieszka Wierzcholska (DHIP)


1. Die ursprüngliche Fassung enthielt missverständliche Formulierungen, die in dieser Fassung behoben wurden (24.10.2021).